Heinrich Lefler und Joseph Urban
Der erste Kontakt zwischen den beiden Künstlern wurde über deren gemeinsamen Freund, den Sänger und Schauspieler Leo Slezak
vermittelt. Urban heiratete später Leflers Schwester Maria (Mizzi),
womit neben freundschaftlichen und geschäftlichen auch familiäre Bande
zwischen den beiden geknüpft waren.
Zusammen mit seinem Schwager Joseph Urban
gehörte Lefler zu den wichtigsten Künstlern des europäischen
Jugendstils. Beide Künstler arbeiteten oft zusammen und gestalteten z.
B. einen 1905 erschienenen Kalender mit Motiven aus den Märchen der Brüder Grimm oder einen Kalender auf 1913 (1912) mit von Hugo Salus nacherzählten Märchen von Hans Christian Andersen. Urban lieferte dabei stets die dekorative Umrahmung zu Leflers Illustrationen. (Wikipedia)
Brüder Grimm: Das Marienkind
Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte
nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren
aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht
wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Eines Morgens ging der
Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er
da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die
hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu
ihm: "Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du
bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen,
seine Mutter sein und für es sorgen." Der Holzhacker gehorchte, holte
sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf
in den Himmel.
Nun war die verbotene Tür allein noch übrig, da empfand es eine große
Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach zu den Englein:
"Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen, aber
ich will sie aufschließen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen." -
"Ach nein," sagten die Englein, "das wäre Sünde: die Jungfrau Maria
hats verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden." Da schwieg es
still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern
nagte und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die
Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es: Nun bin ich ganz
allein und könnte hineingucken, es weiß es ja niemand, wenn ich's tue.
Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt,
steckte es ihn auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte,
drehte es auch um.
Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise zurück. Sie
rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die Himmelsschlüssel wieder
ab. Als es den Bund hinreichte, blickte ihm die Jungfrau in die Augen
und sprach: "Hast du auch nicht die dreizehnte Tür geöffnet?" - "Nein,"
antwortete es.
Da versank das Mädchen in einen tiefen Schlaf, und als es erwachte, lag
es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis. Es wollte rufen, aber es
konnte keinen Laut hervorbringen. Es sprang auf und wollte fortlaufen,
aber wo es sich hinwendete, immer ward es von dichten Dornhecken
zurückgehalten, die es nicht durchbrechen konnte. In der Einöde, in
welche es eingeschlossen war, stand ein alter hohler Baum, das mußte
seine Wohnung sein.
Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der König
des Landes in dem Wald und verfolgte ein Reh, und weil es in das Gebüsch
geflohen war, das den Waldplatz einschloß, stieg er vom Pferd, riß das
Gestrüppe auseinander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er
endlich hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunderschönes
Mädchen sitzen, das saß da und war von seinem goldenen Haar bis zu den
Fußzehen bedeckt.
"Willst du mit mir auf mein Schloß gehen?" Da nickte es nur ein wenig
mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd
und ritt mit ihm heim, und als er auf das königliche Schloß kam, ließ er
ihm schöne Kleider anziehen und gab ihm alles im Überfluß.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: "Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben: verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir." Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach: "Nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht," und die Jungfrau Maria nahm das neugeborne Kind ihr aus den Armen und verschwand damit.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: "Willst du gestehen, daß du die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne mit mir." Da sprach die Königin wiederum: "Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet," und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel.
Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz
laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte
verlangten, daß sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so
lieb, daß er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten bei Leibes-
und Lebensstrafe, nicht mehr darüber zu sprechen.
Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben.
Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden
war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte
Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte:
"könnt ich nur noch vor meinem Tode gestehen, daß ich die Tür geöffnet
habe," da kam ihr die Stimme, daß sie laut ausrief: "Ja, Maria, ich habe
es getan!" Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die
Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau
Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das
neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: "Wer
seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben," und reichte
ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze
Leben.
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