Freitag, 30. Mai 2025

ALFRED KUBIN: DIE ANDERE SEITE

 Alfred Leopold Isidor Kubin (* 10. April 1877 in Leitmeritz, Böhmen, Österreich-Ungarn; † 20. August 1959 in Zwickledt, Gemeinde Wernstein am Inn) war ein österreichischer Künstler, Grafiker, Schriftsteller und Illustrator.

Kubin verkehrte mit wichtigen Persönlichkeiten der mitteleuropäischen Kunst- und Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts.

Sein visuell einzigartiges grafisches Œuvre sowie der verfasste und illustrierte Roman Die andere Seite beeinflussten die Moderne entscheidend. Er gilt als einer der bedeutendsten Künstler Österreichs. (WIKIPEDIA)



Alfred Kubin 1904;





ERSTES KAPITEL
DER BESUCH

„Vor zwölf Jahren weilte mein jetziger Herr in dem weitläufigen Tien-schan oder Himmelsgebirge, welches zu dem chinesischen Zentralasien gehört. Er oblag dort hauptsächlich der Jagd auf die äusserst seltenen Tiere, die nur in jenen Gegenden noch vorkommen. Er wollte unter anderm einen persischen[S. 13] Tiger erlegen, und zwar sollte es ein Exemplar einer kleineren, ganz besonders langhaarigen Art sein. ...



Eine Stunde vor Eröffnung der Kassen war ich auf der Bank. Für mein Papier erhielt ich ein dickes Paket dreimal durchgezählter Scheine. Und als ich meinen Schatz in Händen hielt, konnte ich nicht schnell[S. 26] genug eine Droschke besteigen, um ihn in Sicherheit zu bringen.


 Ich trat ans Fenster, draussen war es dunkel, alles herbstlich kahl. Gedämpft drang der Lärm der grossen Stadt an mein Ohr. Es wurde mir wirklich weh ums Herz und ich starrte in den nächtlichen Himmel. Er war übersät mit winzigen Sternen.

Der nächste Tag, ein Freitag — mit dem Abendzug wollten wir fahren — wurde grösstenteils in einem[S. 29] Hotel am Bahnhofe verbracht. Zwei Billette der Orientlinie nach Constanza hatte ich schon bei mir. Von Bekannten, denen ich zufällig begegnete, verabschiedete ich mich, wobei ich fallen liess, dass wir nach Indien gingen. Um neun Uhr abends sassen wir im Zuge.

ZWEITES KAPITEL
DIE REISE


 An der Spitze des Zuges ritt auf einem mähnigen[S. 44] Pferde der Führer, ein kleiner Kirgise. Bei jedem Karren ein Mann, zum Schluss zwei Diener mit gelben Mützen und dunklen Kaftanen. — So fuhren wir dahin.

— Ich hatte jetzt mein Abenteuer



ZWEITER TEIL

PERLE

ZWEITES KAPITEL 
DIE SCHÖPFUNG PATERAS
 
Am Ausgange eines Engtales entfaltet, floss nun sein Wasser breit und träge dahin in auffallend dunkler, fast tintiger Färbung. Dann beschrieb er einen sanften Bogen. Hier war Perle, die Hauptstadt des Traumreiches, errichtet. Schwermütig düster wuchs sie aus dem kargen Boden in farbloser Einförmigkeit.[S. 57] Viele Jahrhunderte, meinte man, müsse sie schon so dastehen. Tatsächlich stand sie kaum ein Dutzend Jahre. Der Gründer dieser Stadt wollte den Ernst der Gegend nicht stören. Keine schreienden Neubauten waren hier errichtet worden; er gab viel auf Harmonie und liess sich seine alten Häuser aus allen Teilen Europas senden. Es waren nur Gebäude, welche hierher passten; nach einer Idee, mit sicherem Instinkt ausgewählt, fügten sie sich ins Ganze ein. Die Stadt zählte, als ich hinkam, gegen 22 000 Einwohner. —



Von der Langen Gasse bis an den Berg gedrückt lag der vierte Distrikt: das französische Viertel. Dieser kleine Stadtteil mit seinen 4000 Einwohnern, Romanen, Slaven und Juden galt als verrufene Gegend. Die bunt zusammengewürfelte Menge hockte da in alten Holzhäusern eng aufeinander. Winkelgässchen und übelriechende Spelunken enthaltend, war dieses Viertel nicht gerade der Stolz von Perle. 


DRITTES KAPITEL 
DER ALLTAG



„Diese Menschen tragen die Kleider ihrer Eltern und Grosseltern auf“, sagte ich belustigt zu meiner Frau. Ganz unmoderne geschweifte Zylinder, farbige Leibröcke, Kragenmäntel — so waren die Herren angezogen. In Krinolinen und seltsam altmodischen Frisuren, mit Häubchen und Umschlagtüchern, stolzierten die Damen einher. Wie ein Maskenscherz wirkte das!


Aber schliesslich liessen alle diese Geschöpfe und scheinbar leblosen Gegenstände, wenngleich durch eine bizarre Laune zusammengebracht in ihrer[S. 83] Mannigfaltigkeit doch eine unfassbare Einheit durchfühlen.


Es ist der „grosse Uhrbann“ so ist hier sein Name. Also höre einmal: Auf unserm Hauptplatze steht stämmig und massiv ein grauer Turm, so eine Art untersetzter Campanile. Er ist das Wohnhaus einer alten Uhr, deren Zifferblatt das obere Drittel einnimmt. Von dieser bei Nacht transparenten Scheibe, lesen wir unsere Normalzeit ab, und alle übrigen Uhren in Stadt und Land werden nach ihr reguliert. Das wäre nun nichts Besonderes, wenn nicht dieser Turm eine ganz seltsame Eigenschaft noch nebenbei hätte. Er übt nämlich auf sämtliche Bewohner eine mysteriöse, unglaubliche Anziehungskraft aus. 


Bald darauf erfuhr ich,[S. 93] dass Haare, Horn, Tannenzapfen, Pilze, Heu ebenfalls heilig seien. Sogar Pferde- und Kuhmist hatten höhere Bedeutung.


Vielleicht hätte ich mehr Klarheit erworben und würde nicht so im Dunkel tappen, wenn ich nur ein einziges Mal den Tempel am See mit eigenen Augen erblickt hätte. Dieses Heiligtum muss nach allem was ich gehört habe ein märchenhaftes Wunder gewesen sein. Eine gute Tagereise von Perle entfernt, war er am Traumsee gelegen. Künstliche Wasserterrassen und ein stiller Park umgaben ihn. In diesem Tempel sollen die grössten Kostbarkeiten des Traumstaates aufbewahrt worden sein. Er war aus edelstem Material so kunstvoll erbaut, dass der Beschauer[S. 95] den Eindruck einer schwebenden Architektur erhielt. 

Um gleich einmal mit dem Hause anzufangen, worin wir wohnten: unter unsern Zimmern hatte sich ein altes Fräulein einquartiert, eine Prinzessin von X. Sie war hässlich wie eine kranke Ratte und dabei zanksüchtig. Dieses Wesen verursachte besonders meiner Frau viel Ärger.


VIERTES KAPITEL
IM BANN

Nik. Castringius habe ich auch kennen gelernt. Ich weiss eigentlich nicht recht, ob ich ihm sympathisch war. Die Stellung beim Traumspiegel hatte er aufgeben müssen und arbeitete jetzt auf eigene Faust. Ich fand ihn recht originell, viel netter als seine beiden Freunde, mit denen er ins Café kam: de Nemi und den Photographen, meine ich.

 Da fand er auch de Nemi. Dieser war ein Schwein und Leutnant bei der Fusstruppe, Stammgast bei Mme Adrienne. Seine Vorstellungen bewegten sich ausschliesslich um die dort geübten Beschäftigungen. Seine Gespräche verliessen prinzipiell niemals dieses Gebiet. Die Uniform war stets unsauber, seine Augen immer entzündet.

— Ich gähnte und sah zum Fenster hinaus. Bei der Mühle lud man Getreidesäcke ab. Deutlich konnte ich die zwei Eigentümer erkennen: den ewig lachenden, heiteren, und den verschlossen und finster dreinschauenden. Äusserlich waren die beiden die Rückständigsten in[S. 112] der ganzen Stadt. Sie trugen noch Haarbeutel und Schnallenschuhe wie vor alten Zeiten.


Eine Equipage fuhr vorbei. Darin lehnte eine elegante Dame. „Kennen Sie die?“ fragte de Nemi und stiess mich an. „Das ist Ihre Hausfrau, Frau Dr. Lampenbogen.“ Er lachte zynisch, auch die anderen Gäste schmunzelten. Der Wagen fuhr zur Badeanstalt.


Die grosse Mähre war fast verhungert und schleuderte mit verzweifelter Kraft ihre riesigen Hufe. Den knochigen Schädel weit vorgestreckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trübes, glanzloses Auge traf mich — es war blind. Ich hörte das Knirschen seiner Zähne und als ich[S. 118] ihm aufschaudernd nachblickte, sah ich sein zerschundenes, blutiges Hinterteil glänzen. Der rasende Galopp dieses lebenden Skeletts kannte kein Einhalten. Ich tastete mich weiter, während das Dröhnen verhallte, gequält von dem Anblick dieser schrecklichen Knochen. 


Hier ging es noch sehr lebhaft zu. Bald erregte ich das grösste Aufsehen. Ich war mürrisch und beschämt; man lachte über meinen merkwürdigen Aufzug. Ich schimpfte und ging rasch weiter, immer mehr Menschen mir nach; man machte rohe Spässe und ich berechnete, wie das alles ablaufen würde. In diesen verrufenen Winkeln und Sackgassen fand ich mich nicht zurecht; es war sehr peinlich, Castringius hätte sich ausgekannt. Wenn ich nur gewusst hätte, wo die Polizeistation sich befand. So sah ich rechts und links nur schmutzige Spelunken und Lasterhöhlen. Aus allen Gossen dampfte und stank es. Ich machte meine grössten Schritte.



 Umschauend gewahrte ich noch Frau Goldschlägers wackelnden Bauch und das Abschiedslächeln auf ihrem reizlosen Gesicht.


 Auch eine Ruinenstadt, Trümmer aus uralter Vergangenheit, wurde passiert.


. Bei einem Strassenwirtshaus stiegen wir ab und erwarteten den zur Stadt fahrenden Wagen. Die Wirtsleute bemühten sich um die Fiebernde und halfen ihr freundlich beim Einsteigen. 


Die Stimmung wurde ein wenig drückend; ich hatte Angst vor der Nacht und wollte meine Anwesenheit hier möglichst lange hinausziehen. Jetzt erst betrachtete ich die schöne Frau näher. Sie trug ein blau- und weissgestreiftes, bauschiges Kleid und das üppige Haar in einem Netz nach der damaligen Mode im Traumreich. Ihr Gesicht erschien mir auffallend klein, die Stirne schmal, die Augenbrauen[S. 159] stark geschwungen und zwar aussen höher. Die Nase war ziemlich kurz, eine Stumpfnase, der Mund sehr voll und breit, leichte Negerlippen. Das schönste waren ein Teint wie Alabaster und das Haar. Für ein Weib war sie gross.


Ich trank einen schwarzen Kaffee und konstatierte, dass ich weder zum Selbstmord, noch zum Leben fähig war. „Ich werde ein vegetatives Halbleben zwischen den beiden Möglichkeiten führen und den Todesstoss wie ein Schlachtochse erwarten, lange kann er ja nicht ausbleiben.“ — Ein Blick in den Spiegel zeigte mir ein krankes, aufgeschwollenes Gesicht.

[S. 164]





FÜNFTES KAPITEL
DIE VORSTADT

Hier unterbreche ich den Fluss der Erzählung und Schilderung, um dem Leser die Philosophie der Blauäugigen so wie ich sie erfasste, nicht ganz vorzuenthalten.


Hinten am Flusse sass der Müller — mir wurde unbehaglich —; er studierte ein gewaltiges Zeitungsblatt. Nachdem er es gelesen und gefressen hatte, dampfte Rauch aus seinen Ohren, er wurde kupfrig, stand auf und hielt sich seinen Hängebauch mit beiden Händen, während er das Ufer auf- und niederstürmte.[S. 183] Dabei blickte er wild um sich und stiess schrille Pfiffe aus. Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblasste, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleine Eisenbahnzüge herumsausen; sie schienen sich fangen zu wollen, blitzschnell wurde eine Darmschlinge nach der andern durchfahren. Kopfschüttelnd und etwas verblüfft wollte ich dem Müller meine Hilfe antragen, die Worte wurden mir aber von einem Schimpansen abgeschnitten, der um mich mit grösster Geschwindigkeit eine ringförmige Gartenanlage pflanzte, wobei dicke apfelgrüne Strünke wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten Boden sprossen.



DRITTER TEIL
DER UNTERGANG DES TRAUMREICHES

ERSTES KAPITEL
DER WIDERSACHER


Im grossen Saale nebenan war Lärm. Man hörte Reden und Applaus — der Amerikaner hatte eine Versammlung einberufen. „Ordnung wird er noch ins Traumreich bringen!“ soll er geschworen haben. Später sah ich ihn selbst, wie er durch das Lokal ging. Seine Erscheinung werde ich nicht vergessen. In die Saaltüre trat ein Mann anfangs der Vierziger mit untersetzter Figur und breiten Hünenschultern. Sein Gesicht[S. 190] schien wie eine Kombination von Geier und Stier. Alle Formen waren leicht aus der Symmetrie geschoben; die Hakennase nach einer Seite gedrückt, ein betontes Kinn, eine hohe, schmale, sehr kantige Stirn gaben dem Kopf etwas schief Verwegenes. Sein schwarzes Haupthaar war am Scheitel gelichtet. Er trug einen Frack. Mit kurzen elastischen Schritten ging er an unserem Tisch vorüber, Castringius grüsste zuvorkommend und erhielt zum Dank ein kurzes Nicken. Der Amerikaner erregte die Aufmerksamkeit des ganzen Restaurants.


DRITTES KAPITEL
DIE HÖLLE

Bald darauf wurden die Fährten von kolossalen Zweihufern im Lehmboden der Tomassevicfelder festgestellt, die am Rande der Stadt lagen; das war bedenklich.

[S. 221]




Es war rätselhaft, woher dieser überschwengliche Reichtum an Tieren kam. Sie waren die eigentlichen Herren der Stadt und hielten sich augenscheinlich auch dafür. Wenn ich im Bette lag, hörte ich ein Laufen und Hufeklappern, als wäre ich in einer grossen Stadt. Kamele und wilde Esel durchwanderten die Strassen; es war gefährlich, sie zu necken.


Wie sah ich selber aus? Sonderbar genug! Na, wenigstens liefen auch andere, sonst adrett und sauber gekleidete Leute nun recht verlottert herum. Schimmel an Kleidern und Schuhen hatten wir alle. Da half kein Waschen und Schaben, es kam schnell wieder nach. Die Kleiderstoffe wurden mürbe, faserten und fielen stückweise von uns. Wir Männer ertrugen das mit Würde, doch die armen Damen!...... schweigen wir!



Ich nahm wieder meine abendlichen Spaziergänge am Flussufer auf. Da hatten die Wellen unzählige Muscheln, Korallen, Schnecken, Fischgräten und -schuppen ans Ufer geschwemmt. Überrascht war[S. 235] ich, häufig Überreste zu finden, welche der Meeresfauna angehören. Wie von mystischen Zeichen übersäet schien das Ufer. Ich war überzeugt, dass die Blauäugigen diese symbolische Sprache verstehen würden. Sicher waren hier Geheimnisse; auch die Flügel der oft prächtigen Insekten, Nachtfalter, Käfer, zeigten Flecken, die vergessene Buchstaben sein mussten. Mir fehlte der Schlüssel dazu.


In meine Wohnung ging ich nicht mehr, auch das[S. 245] Kaffeehaus mied ich. Ausser dem Schmutz war mir jetzt Anton zuwider, kordial klopfte er den Gästen auf die Schultern; er pflegte zum Beispiel zu sagen: „Sie, Ihna Freund, dös is a Luada!“

„Wer?“

„Na, der Herr woass eh, den Castringius moan i.“




Viele Leute wurden menschenscheu und zogen sich in die Wildnis zurück.


Es war nicht mehr möglich, die Nacht vom Tage zu unterscheiden, in dem gleichmässigen grauen Zwielicht konnte man sich nur notdürftig zurechtfinden. Da alle Uhren eingerostet und stehen geblieben waren, fehlte uns jede Zeitberechnung; daher ist es[S. 261] mir auch unmöglich anzugeben, wie lange sich der Zustand der Auflösung hinauszog. Ab und zu sah man noch ausgemergelte Raubtiere, doch mit eingeklemmtem Schweif und dürren Flanken ergriffen sie bei der Annäherung des Menschen die Flucht. Aus staubigen Winkeln wurden vertrocknete Schlangen gezogen.



Es war der Müller. — Er nahm eine Prise, zog ein Rasiermesser heraus, probierte die Klinge und schnitt sich die Gurgel durch. Er stürzte nieder, wie aus einem Quell rieselte das Blut über seine Brust. Sein Gesicht war zu einer satanischen Grimasse verzerrt. — — —



 Kaltblütig stellte sich Herkules Bell gegen die Wand des Gartengebäudes. In jeder Hand hielt er eine Browningpistole und frug mit schallender Stimme: „Welche von euch wollen die ersten sechzehn sein?“


Das Gefängnis befand sich etwa eine kleine Tagereise stromabwärts auf einem Felsenriffe mitten im Negro, unweit des Städtchens Bellamonte.


Neugierig hoben die Polizisten den Erschossenen auf, um zu sehen, was er denn mit seinem Körper so sorgsam verdeckte: einen verwesten Kopf, an dem dickes, langes, kastanienbraunes Haar hing. Er schien zu leben. Es regte sich in den Augenhöhlen und um die wie angeklebten Lippen — — ein Gewimmel von Maden.

 Die angekommenen Gäule witterten die gewaltige Bewegung, und wurden sofort mit hineingerissen. Morsche Geschirre und Sattelgurte platzten, und die Reiter, die keinen Halt mehr fühlten, überkollerten sich und wälzten sich am Boden, bevor sie noch recht wussten, wo der Feind war. Aller Lasten ledig, stob die wilde Herde gegen die Kaserne, dass die Funken sprühten.


Das Ende war, dass die zwei schönen Seelen von nun an gemeinsame Sache machten. Ihre Spezialität war: Einbruch in verlassene Landhäuser. Im Schlossgarten besassen sie ein Versteck, wo sie die zusammengerafften Reichtümer aufstapelten und vergruben. Eines Tages hatten sie einen besonders vielversprechenden Fischzug vor. Die Villa des früheren Traumspiegelredakteurs, der dem Biss einer Giftschlange erlegen war, stand leer.


Der so Geblendete griff aufs Geratewohl zu, packte seinen Gegner an der Brust und riss ihn zu sich heran. Die Schiffsschrauben schlossen sich hinter seinem Rücken, Anton knickte ein. Beide, der Lange und der Kurze, wälzten sich auf dem Boden, zuerst rollten sie durchs ganze Gemach, dann durch die offene Tür auf die Altane hinaus. Dass das Geländer zerbrochen war, merkten die sich wütend umschlungen haltenden nicht. Sie flogen vom Balkon auf das Dach der angebauten Waschküche, glitten weiter abwärts und stürzten in die geöffnete Senkgrube.


 Eine arme Frau mit zerschmettertem Kiefer träufelte sorgfältig Chloroform auf den in seinem Fett Stöhnenden. Kranke sind selten mitleidig, dazu haben sie selbst zu viel gelitten. Als der Dicke betäubt war, stärkte man sich an den Köstlichkeiten im erbrochenen Eisschrank. Lampenbogen wurde mit Hilfe eines Gasrohres gepfählt. Den Geschwächten verursachte dieses Werk langwierige Arbeit. Der Wärter legte Feuer an, um die Spuren der Untat zu verwischen. So endete Lampenbogen seine Existenz als Spiessbraten, und zwar als ein schlechter; der obere Teil war grösstenteils roh, kaum gebräunt, die Bauchteile dagegen gänzlich verkohlt. Nur an den Seiten war er richtig knusperig.


Nochmals das Feuer speisend, warf er einen Blick auf das Manometer und riss am Hebel. Das alte Vehikel setzte sich in Bewegung. — Es war eine gefährliche Fahrt, denn der niedere Bahndamm war halb zerstört. Zeitweise überschwemmte das Sumpfwasser auf lange Strecken die Geleise, vorne spritzte es hoch auf, die Räder mähten wuchernde Binsen; hinter sich liessen sie eine lange Kielwelle.



 Neben dem Lehnstuhl stand am Boden eine Blendlaterne. 


Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern. In diesem, in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, konnten sich nicht mehr verständigen, sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stiessen die schwächeren Weiber in die Aasflut, wo sie von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der grosse Platz glich einer gigantischen Kloake, in welcher man mit letzter Kraft einander würgte und biss und schliesslich verendete.

Aus Fensterlöchern hingen die starren Leiber entseelter Zuschauer, deren gebrochene Blicke dieses Königreich des Todes spiegelten.

Verrenkte Arme und Beine, gespreizte Finger und geballte Fäuste, geblähte Tierbäuche, Pferdeschädel, zwischen den langen gelben Zähnen die wulstige blaue Zunge weit vorgestreckt, so schob sich die Phalanx des Untergangs unaufhaltsam vorwärts. Greller Lichtschein flackerte und belebte diese Apotheose Pateras.




Da gewahrte ich eine kleine Schar Männer am jenseitigen Ufer, die durch das sandige Flussbett herüberkamen: die Blauäugigen. Gesenkten Hauptes schritten sie an mir vorbei. Zuerst ein gebücktes Wesen mit einem vielfach gefurchten, wie zersprungenen Gesicht, als wäre es tausend Jahre alt.

Der letzte, ein wenig grösser und aufrechter schreitend, blickte sich nach mir um. Ich schaute in das schönste Gesicht, das ich je gesehen habe, das Antlitz Pateras ausgenommen. Wie aus Porzellan geformt war das reine Eirund des Kopfes. Mit den durchsichtig dünnen Nasenflügeln, dem schmalen, etwas eingedrückten Kinn, kam mir der Mann wie ein überfeinerter Mandschuprinz oder wie ein Engel aus einer buddhistischen Legende vor. Seine schlanken, langen Gelenke sprachen von äusserster Entwicklung der Rasse. Alles Haar war abgeschabt und vollkommen glatt spannte sich seine Haut. Mit einem[S. 311] unvergleichlichen Blick aus seinen blauen Augen sah er mich an. Das konnte keine Zurückweisung sein — ich folgte ihm nach.


VIERTES KAPITEL
VISIONEN - DER TOD PATERAS


. Ein sprühendes, ungebärdiges Leben sauste durcheinander an meiner Seele vorbei. Denn nicht mehr mit dem[S. 322] Auge sah ich das — nein, nein! ich hatte mich vergessen, ich selbst ging auf in diesen Welten, nahm teil am Schmerz und an der Freude zahlloser Wesen. Rätsel entschleierten sich mir, fremdartig und unschilderbar.


Ich betrat den Felsensaal; mit seinen zwei Reihen mächtiger, figurenbedeckter Säulen erinnerte er an einen Höhlentempel. In einem weiten ehernen Becken brannte eine Naphtaflamme, eine unruhige, orangegelbe Zunge. Sie war das einzige Licht hier und drang kaum bis in den tiefen Hintergrund, wo die Blauäugigen hockten. Am liebsten hätte ich mich in meiner Angst zurückgezogen, aber ich wollte ihnen für meine Rettung danken; über die Zukunft hatte ich noch keinen Augenblick nachgedacht.



FÜNFTES KAPITEL
SCHLUSS



Das Phänomen Patera bleibt ungelöst. Vielleicht waren die Blauäugigen die wirklichen Herren, die durch magische Kräfte eine leblose Paterapuppe galvanisierten und das Traumreich nach Gefallen schufen und vergehen liessen.